ANKOMMEN
Hallo Frau Balanyi, uns interessiert Ihr Werdegang. Wie kam es dazu, dass Sie nach Deutschland gekommen sind? Wie war ihre berufliche Situation, bevor Sie nach Deutschland gekommen sind?
Okay, da muss ich etwas weiter ausholen. Ich komme aus Ungarn. Ich habe insgesamt 40 Jahre lang in Ungarn gelebt. Mein beruflicher Werdegang ist ein bisschen holperig. In meinem Elternhaus lief nicht alles rund, also habe ich mit 16 das Gymnasium abgebrochen und bin ausgezogen, um selbständig und selbstbestimmt zu leben.
Ich habe dann 1985 ein Jahr lang in einer Computerfirma gearbeitet, weil es für junge Menschen unter 17 kaum möglich war, einen Job zu finden. Bis 17 galt Schulpflicht. Danach war es möglich, in anderen Bereichen zu arbeiten. Ich habe also im Krankenhaus einen Job gesucht, da dort die Bezahlung besser war. Dort war ich als Krankenhelferin eingestellt. Parallel zum Vollzeitjob besuchte ich das Abendgymnasium. Dann habe ich für zwei Jahre berufsbegleitend eine Krankenpflege-Ausbildung gemacht und diese dann im dritten Jahr abgeschlossen. Ich war dann Fachkrankenschwester für Erwachsene.
1992 öffnete sich das Tor in den Westen, so kam ich das erste Mal als Gastarbeiterin nach Deutschland ins Landeskrankenhaus in Dachau. Das war eine ganz andere Arbeitswelt als das, was ich von Ungarn kannte. Teilzeitjob, Fortbildungsmöglichkeiten, Kurse in der Volkhochschule oder die Möglichkeit zum Quereinstieg waren mir völlig fremd, aber es hat mir sehr gut gefallen. Die Kolleg:innen waren sehr nett, aber das war für mich die erste Begegnung mit einer fremden Kultur. Ich hatte zwar die Sprache in der Volkshochschule gelernt und konnte gut Deutsch, aber ich fühlte mich da nie zuhause. Ich blieb damals nur für zwei Jahre, dann musste ich wieder nach Ungarn zurück. Von dem Geld, was ich in Dachau verdient habe, konnte ich in Ungarn in einem Dorf ein kleines Familienhaus kaufen. Das war schon krass.
Dann habe ich wieder im Krankenhaus gearbeitet. Ich war auf der Intensivstation eingesetzt, mit Schichtdienst und dem damit verbundenen Stress. In Teilzeit zu arbeiten, war nicht möglich. Ich habe dann erkannt, dass meine Kollegen kein oder nur ein fragiles Familienleben hatten. Also habe ich mir gedacht: Wenn ich jemals eine Familie gründen will, dann muss ich etwas Anderes machen.
Das kam dann wirklich so. Mit 25 Jahren habe ich einen Partner gefunden und, da ich schon 25 war, wollten wir dann auch bald heiraten. Das galt damals als fast schon zu spät in Ungarn (lacht). Ich habe dann doch einen Weg gefunden, eine Umschulung zu machen, so wurde ich Manager-Assistentin in einer kleinen Stiftung. Zwei Jahre später kann mein Sohn zur Welt. In Ungarn war es üblich, dass man drei Jahre mit dem Kind zuhause bleiben darf und auch Muttergeld bekommt. Wir wollten drei Kinder haben, was auch geklappt hat, so war ich insgesamt sechs Jahre zuhause. Mein Mann war Tischler, wir haben ein Familienunternehmen gegründet und neben der Carearbeit habe ich die Büroarbeit gemacht.
Hat die Familienplanung deine berufliche Situation verändert?
Mir war klar, dass ich aufgrund der Kinder und der traditionellen Arbeitsaufteilung – die Frau kümmert sich komplett um die Kindererziehung, den Haushalt und arbeitet Vollzeit (Schmunzeln) – nicht auf die Assistenten-Stelle in der Stadt zurück konnte. Ich habe dann weitere Bildungsmöglichkeiten gesucht und gefunden – sowas wie Bürokauffrau, was wir im Unternehmen brauchten. Zufällig fand ich dann auch einen Job im Dorf als Kindergartensekretärin.
Es war ein kleines Dorf mit ca. 500 Familien, man kannte sich. Ich kannte den Kindergarten, die Schule und so auch die Eltern der Kinder, und auch die Probleme in den Familien. Ich habe mich ehrenamtlich engagiert und wir habe mit anderen Unternehmen im Dorf eine Stiftung gegründet, um die Familien zu unterstützen.
Ich wurde oft von den Eltern bei Problemen angesprochen, und ich habe erkannt, dass das soziale System sehr lückenhaft ist. Da ist die Idee entstanden, einen sozialen Beruf zu ergreifen, so etwas wie Soziale Arbeit. Das war ein komplett neuer Beruf in Ungarn, denn in dem kommunistischen System gab es offiziell keine sozialen Probleme (schmunzelt). Der Berufszweig als Sozialarbeiterin war zuerst für die Arbeit mit Obdachlosen zuständig, für die Kinder und Familien nur das Jugendamt. Ich habe einen Fernstudiengang Sozialpädagogik gefunden, was damals ganz neu entstanden ist. Das schien mir in meinem Umfeld sehr gefragt zu sein und hat mir auch sehr gut gefallen. Deshalb habe ich mich für das Studium entschieden. Das Studium habe ich dann in vier Jahren in Form eines Fernstudiums mit Blockseminaren absolviert. Parallel habe ich im Kindergarten und im Familienunternehmen weitergearbeitet und natürlich die Kindererziehung und der Haushalt gehörten auch zu meinen Aufgaben. Ich habe noch im Dorf mit der evangelischen Pfarrerin einen Jugendclub gegründet, weil es in diesem Bereich gar kein Angebot gab.
Als die Kinder größer waren, habe ich einen Job im städtischen Krankenhaus als Krankenhaussozialdienst gefunden. Ich habe da in der Psychiatrie gearbeitet, bis wir dann 2009 als Familie nach Deutschland gezogen sind. Und da kommt jetzt wahrscheinlich die Frage, warum?
Genau. Warum sind Sie als Familie nach Deutschland gekommen?
Also: die wirtschaftliche Lage war in Ungarn nach der Wende sehr instabil. Ich wollte die Demokratie mitgestalten, und ich war deshalb auch zwei Jahre im Gemeinderat aktiv, aber die dort gesammelten Erkenntnisse haben mich sehr enttäuscht. Es entwickelte sich eine Scheindemokratie, die mir große Sorge machte.
Wir hatten schon etwa 15 Jahre unser Familienunternehmen, das wir in dieser Zeit schon drei, vier Mal neu gegründet und wieder geschlossen hatten, weil es einfach nicht möglich war, Stabilität aufrechtzuerhalten – das dachte ich zumindest damals. Wir – mein Mann und ich – hatten sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Geschäftsführung. Irgendwann habe ich mich zurückgezogen, und mich nur um die Papiere gekümmert.
Wir hatten damals 28 Mitarbeiter in unserem Bauunternehmen und der Tischlerei. Ein ehemaliger Mitarbeiter von uns arbeitete später in Deutschland, weil seine Schwester in Deutschland geheiratet hatte. Nach einer Krise im Unternehmen wollte mein (Ex-)Mann einfach ausprobieren, wie es ist, wenn man in einer stabilen wirtschaftlichen Lage arbeitet. Er ist dann im Urlaub nach Deutschland gefahren und hat probemäßig mitgearbeitet. Er war so begeistert und so ruhig und entspannt, als er wieder nach Hause kam, dass wir uns überlegt haben, auszuwandern. Ich hoffte auch, dass unsere Ehe dadurch besser wird.
Für mich war wichtig und entscheidend, Deutsch sprechen zu können. Ich war mir sicher, dass ich mit der Krankenschwesterausbildung überall einen Job finden könnte. Mein (Ex-)Mann hatte schon einen Arbeitskontakt, sodass wir beide direkt anfangen konnten zu arbeiten. Das war der Gedanke. Unsere Kinder waren damals 9, 11 und 13 Jahre alt. Die Älteren beiden hatten schon Deutsch in der Schule gelernt. Das waren zwar minimale Kenntnisse, allerdings hatten beide das Gefühl, sie könnten Deutsch (Schmunzeln). Das hat ihnen Selbstsicherheit gegeben. Tja, und dann haben wir relativ schnell die Entscheidung getroffen, Ungarn zu verlassen.
Von der Entscheidung bis zum Umzug hatten wir insgesamt drei Monate. Wir mussten den Umzugszeitpunkt so gestalten, dass wir zum Schulbeginn in Deutschland ankamen. Dabei galt es noch zu beachten, dass das Schuljahr in Ungarn anders war, sodass uns nicht so viel Zeit für den Umzug blieb.
Bei der Wohnortwahl war die Schule für die Kinder entscheidend. Ich wollte für sie alles möglichst einfach gestalten. Wir sind nach Hasbergen gekommen, weil es hier eine Schule gab, wo alle drei Geschwister in die gleiche Einrichtung gehen konnten und der Schulweg kurz war.
Ich habe alles per Internet von Ungarn aus organisiert, weil mein Ex-Mann noch kaum Deutsch konnte. Die Wohnung habe ich im Internet gefunden, während mein Mann schon bei den Bekannten in Deutschland gewohnt hat. Er konnte sich dann vor Ort alles anschauen und die entsprechenden Verträge unterschreiben. Mit der Schule war auch schon alles geklärt, als wir hier ankamen.
Das war für mich eine sehr anstrengende Zeit mit meinen wackeligen Deutschkenntnissen. Seit 1994 hatte ich kaum Deutsch gesprochen. Ohne meinen Glauben hätte ich nicht die Kraft und Zuversicht gehabt, dass es klappen würde.
Wie haben Sie sich auf die Zeit in Deutschland vorbereitet?
Wir hatten ja nur diese drei Monate. Also habe ich in der Zeit versucht, alles zu lesen, was ich im Internet finden konnte. Es war wortwörtlich ein Neuland für mich (lacht). Ohne die Sprachkenntnisse, hätte ich das nie im Leben gekonnt und gemacht.
Die Priorität lag auf den Arbeitsmöglichkeiten, der Krankenversicherung für die Familie, auf der Schule und, dass wir eine Wohnung finden. Es ging um die Absicherungen und die Sicherheit und darum, dass die Kinder den Umzug nicht als Verlust von Heimat und Freunden erleben, sondern als Abenteuer und Chance auf etwas Neues.
Wie genau haben Sie zu Arbeitsstellen in Deutschland recherchiert?
Seit 1994 hatte ich kein Deutsch mehr gesprochen. Ich hatte zwar ein C1-Niceau, aber 17 Jahre, ohne die Sprache zu sprechen, ist ganz schön viel. Das war erst nicht so einfach. Aber ich habe einige Portale im Internet gefunden, die über die Stadt und die Umgebung gute Infos geliefert haben. Dann habe ich das erst mal übersetzt.
So konnte ich mir einen guten Überblick verschaffen, auch über das Sozialsystem oder über Jobmöglichkeiten. Also ich dachte, dass ich genau weiß, was mich in der neuen Welt erwarten würde…(lacht). Dann kam es ganz anders…
Wie kam es denn?
Mein Ex-Mann hatte Schwierigkeiten Deutsch zu lernen und er kam mit seinem Arbeitgeber auch schwer zurecht. Er war immer selbständig gewesen und hatte das Sagen gehabt. Hier war er ein Angestellter ohne Deutschkenntnisse.
Er wollte auch hier Unternehmer werden, was aber nicht geklappt hat. Er konnte sich einfach nicht anpassen. Es gab sehr viel Stress. Mehr Stress als ein Heimatwechsel so mit sich bringt.
Ich habe schnell einen Job gefunden, aber ich musste noch drei Monate auf eine Arbeitserlaubnis warten, bevor ich starten durfte. Als Krankenschwester etwas zu finden, war nicht schwer. Dann stellte sich jedoch heraus, dass meine Krankenschwesterausbildung in Niedersachsen doch nicht anerkannt wurde, obwohl ich ein internationales Zeugnis hatte. So wurde ich als Pflegehelferin eingestellt und heruntergestuft. Ein Jahr nachdem wir hier angekommen waren, ist unsere Ehe endgültig kaputtgegangen. Ich war plötzlich allein mit drei Kindern in einem fremden Land mit einem Teilzeitjob. Das war definitiv nicht der Plan.
Und wie ging es den Kindern?
Ich habe sehr viel Hilfe von der Schule bekommen. Die Kinder haben extra Deutsch Unterricht bekommen und wurden in alle Aktivitäten einbezogen. Die Klassenlehrerinnen haben ihnen viel geholfen, Anschluss zu den anderen Kindern zu finden. Sie fühlten sich hier sehr wohl. Das Schulsystem im Vergleich zu Ungarn ist viel kinderfreundlicher und praktischer. Hilfe habe ich außerdem von einem Lehrer bekommen, der die Schach AG gemacht hat, die meine Kinder besuchten. Er hat den Kindern auch dabei geholfen, Deutsch zu lernen. Ihm war aufgefallen, dass etwas nicht stimmt, als ich die Kinder aus der Schule abholte. Ich war total fertig mit den Nerven, ich war verzweifelt. Mir wurde dann auch von dem Schulsozialarbeiter geholfen. So habe ich von der Schule erfahren, dass ich Wohngeld beantragen darf und dass die Kinder eventuell in der Schule essen könnten. Ich habe sogar Hilfe bei der Wohnungssuche erhalten. Als wir uns getrennt haben, zog ich mit den Kindern aus.
Die Hilfsbereitschaft und Unterstützung von quasi fremden Menschen hat mich gerettet. Das hat mir Zuversicht und Hoffnung gegeben, dass es doch noch gut gehen kann. Zumindest der Stress mit meinem Ex-Mann war weg. Das war auch für die Kinder besser.
Und wie ging es beruflich für Sie weiter? Sie sind jetzt auch in Deutschland staatlich anerkannte Sozialarbeiterin.
Ich hatte damals in etwa 900 Euro Gehalt von meinem Teilzeitjob als Pflegeassistentin plus Kindergeld. Davon haben wir gelebt. Mein Ex-Mann hat keinen Unterhalt gezahlt. Das war schon hart. Er ging nach kurzer Zeit zurück nach Ungarn. Ich habe gearbeitet, als die Kinder in der Schule waren, und ich habe viel Nachtschichten gemacht. Meine Nachbarin hatte ein Auge auf die Kinder. Das war schon wichtig, um über die Runden zu kommen. Ich hatte keine Energie und Zeit, mir Gedanken über berufliche Perspektiven zu machen. Das ging ca. fünf Jahre so.
Obwohl ich eine Ausbildung und ein Diplom als Sozialpädagogin in der Schublade hatte, habe ich für 7,50 Euro brutto gearbeitet. Meine Kinder haben in der Schule Nachhilfe gegeben und sie wurden dafür besser bezahlt als ich. Das wollte ich unbedingt ändern. So habe ich nach Informationen zur Anerkennung des Sozialpädagogik-Diploms gesucht und wurde auch fündig. Da war auch ein steiniger Weg, weil es vor mir noch niemand in Osnabrück beantragt hatte. Ich musste deutsches Recht nachholen und ein Anerkennungsjahr absolvieren. Am Ende habe ich es auch geschafft. Das war zwar sehr schwer, aber eine gute Entscheidung, wenn ich zurückblicke. Viele Frauen schaffen das nicht. Das kann ich auch gut verstehen. Ich bin glücklich, dass ich es geschafft habe. Ich glaube, dass mein Glaube mich gerettet hat …
So bin ich wieder beim Krankenhaussozialdienst gelandet. Das war gut, weil da fühlte ich mich zuhause. Später wechselte ich in eine Wohneinrichtung für psychisch kranke Menschen und jetzt bin ich im öffentlichen Dienst tätig. Meine KollegInnen akzeptieren mich. Ich habe das Gefühl, im Berufsleben angekommen zu sein.