„Ich hatte ganz oft Albträume, dass ich nach Ungarn zurück müsste.“

In einem neuen Land Fuß zu fassen, ist als Familie schon herausfordernd genug: Eine neue Umgebung, Verständigungsschwierigkeiten und eine neue Kultur. Wenn dann noch die Ehe scheitert, kann das zu existentiellen Sorgen führen. Wie sie es trotzdem durchgestanden hat, erzählt Katalin Balanyi (53) hier.

LEBEN

Was waren große Umstellungen für dich und die Familie?

In Ungarn hatten wir ein Riesenhaus mit 300 Quadratmetern, mit einer großen Spielfläche im Keller, Büro und einer Werkstatt. Wir sind dann hier in eine 60 Quadratmeter Wohnung eingezogen, das war schon irgendwie lustig. Ich habe allerdings erkannt, dass man das schneller putzen kann und ich deshalb mehr Freizeit hatte. In Ungarn war die Rollenverteilung sehr traditionell und altmodisch. Da war die Erwartung an die Frau, dass man sich als Frau um den Haushalt, Kinder und eben den Job kümmert. Das war ein anderes Leben. In meinem Fall hatte ich einen Vollzeitjob, dann war ich noch in der Stiftung und Lokalpolitik aktiv, hab das Firmenbüro geleitet, studiert, den Haushalt geführt und mich um die Kindererziehung gekümmert. Das war damals selbstverständlich.  

Das Leben war also entspannter, als du hier nach Deutschland gekommen bist?

Definitiv, und das trotz der Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Meine Kinder musste ich dann zusätzlich noch quälen, Deutsch zu lernen (lacht). Außerdem musste ich noch drei Monate warten, bis ich arbeiten durfte. Denn 2009 als wir kamen, musste man noch eine Arbeitsgenehmigung beantragen, obwohl ich EU-Bürgerin war. Zwei Jahre später wurden die Gesetze geändert (Anm. d. Redaktion: Zum 1. Mai 2011 liefen die Übergangsbestimmungen zur Freizügigkeit für die im Zuge der Osterweiterung 2004 beigetretenen Länder aus, sodass diese EU-Bürger*innen keine Arbeitsgenehmigung mehr beantragen mussten). Dann habe ich hier als Pflegekraft im Pflegeheim gearbeitet. Das war in Teilzeit, das war für mich auch neu, denn in Ungarn gab es keine Teilzeitstellen, sondern nur Vollzeitstellen. Das war schon gut hier und ermöglichte mir, mich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern und zu arbeiten. Das war schon eine enorme Entlastung. 
In Ungarn zählten wir im Dorf als wohlhabend. Hier waren wir relativ arm, aber das ist den Kindern nicht aufgefallen. Im Alltag war es nicht zu spüren. Das war schon ein interessantes Erlebnis. Ich glaube, das hat uns auch viel geholfen hier anzukommen.

Was waren für Sie  weitere Herausforderungen?

Einige sind eher private Natur. Ein Jahr nachdem wir hier ankamen, habe ich mich von meinem Mann getrennt und später scheiden lassen. Unsere Ehe war schon länger nicht mehr so gut. Ich habe gehofft, dass wir hier wieder zueinander finden. Zurückblickend war es sehr naiv von mir. Ein Heimatwechsel ist eine sehr große Herausforderung und mit vielen Unsicherheiten und Stress verbunden. Auch stabile Beziehungen stellt das auf die Probe. Die Entscheidung, nach der Trennung hier zu bleiben, war schon eine große Herausforderung. Es hat etwas mit Deutschland zu tun, dass ich hier die Möglichkeit hatte als Alleinerziehende zu überleben. In Ungarn wäre das eher nicht möglich gewesen.
Außerdem war es eine Herausforderung, beruflich die Kurve zu kriegen. Das war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber wie schon erwähnt, hat es gut geklappt. Als ich noch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, hatte ich oft Albträume, dass wir nach Ungarn zurückmüssten. Das wäre noch schwieriger gewesen, als nach Deutschland zu kommen. Trotz aller Probleme, die man von der politischen Ebene hört, werden die Menschenrechte in Deutschland groß geschrieben. Und gelten nach meiner Erfahrung auch für Ausländer. Das hier das Individuum und das eigene Interesse zählt und man es nicht aufgeben muss, wenn man zu einer Gruppe gehören will, war für mich eine sehr schöne Erfahrung. Daher habe ich bei der ersten Gelegenheit, als ich endlich aus dem Sozialleistungsbezug raus war, die Staatsangehörigkeit beantragt und auch bekommen.

Wenn Sie 1992 mit 2009, als Sie mit der ganzen Familie gekommen sind, vergleichen, war das ähnlich oder hat sich da viel verändert?

O ja (Lachen). Das Internet ist ein Meilenstein. Das macht vieles über Grenzen hinweg möglich. Es eröffnet viele Möglichkeiten und ändert im Grunde alles. Es verbindet Kulturen, man kann viel mehr über den Alltag in einem Land erfahren und sich viel besser vorbereiten.
Die Welt ist offener geworden. Was mir vor allem aufgefallen ist, dass die Mentalität in Bayern anders war als in Norddeutschland. In Bayern waren die Menschen sehr freundlich, aber ich habe keine bleibenden Freundschaften aufgebaut. Natürlich macht es auch einen Unterschied, denn 1992 war ich 22, da ist alles anders. Es war auch im Krankenhaus neu, dass Ausländer in Gruppen gekommen sind, um zu arbeiten.
Und 1993 war auch zu spüren, dass die zwei Teile Deutschlands wieder zusammengehörten und viele auch aus Ostdeutschland kamen. Alle mussten sich irgendwie anpassen.
Als ich 2009 nach Norddeutschland gekommen bin, war das für die Einheimischen schon fast normal, dass Ausländer in Deutschland lebten. Alles war irgendwie offener. Allerdings war ich auch weniger kontaktfreudig, da ich mit meinen eigenen Problemen beschäftigt war. Aber grundsätzlich nahm ich von Anfang an eine freundliche Anerkennung wahr. Niemand hat Bemerkungen darübergemacht, dass ich Ausländer bin oder so. Das war normal, denn wir hatten ein internationales Pflegeteam, ganz viele Menschen aus Polen oder aus Russland. Somit war ich nicht die einzige Person aus dem Ausland. So habe ich das auch später wahrgenommen. Ja, eigentlich hat alles gut funktioniert.
Seit ich die staatliche Anerkennung in der Sozialarbeit habe (das ist jetzt acht Jahre her), ist alles absolut top. Ich habe noch einen speziellen Akzent, der nur schwer einzuordnen ist, aber das finden die Menschen eher interessant und weckt Neugier. Ich nehme das als positiv wahr.
Ich würde sagen, dass die Zeit viel Positives gebracht hat. Der Gedanke eines gemeinsamen Europas ist für mich im Vergleich zu vor fast 30 Jahre definitiv spürbar. 

Sie haben erzählt, dass Sie im beruflichen Kontext und in der Schule Ihrer Kinder Unterstützung erhalten haben. Haben Sie auch privat Hilfe erhalten (bei Behördengängen, beim Einkaufen oder Ähnlichem) und ein soziales Netz aufbauen können?

Ne, das habe ich alles selbst aufbauen können. Es war für mich auch sehr wichtig, das so zu machen. Ganz viele Infos aus dem Internet oder ich bin zur Gemeinde gegangen und habe nachgefragt. Aber ansonsten habe ich beim Ankommen keine Unterstützung von Nachbarn oder so erhalten. Und ich denke, man sollte nicht irgendwohin aufbrechen, wenn man nicht auf den eigenen Füßen stehen kann. Den Alltag sollte man selbst meistern können. Es kann noch immer Probleme geben, wie auch bei mir passiert ist, und das ist schön, wenn man dann Hilfe bekommt. Später habe ich eher keinen Kontakt gesucht, weil in so einer schweren Lebenslage nach der Scheidung, mit drei Kindern, wollte ich darüber nicht unbedingt reden. Einige Freunde habe ich doch gefunden, überwiegend unter den Kolleg:innen. Die habe ich auch heute noch. Es gibt hier in Norddeutschland kaum jemand aus Ungarn. So wurden wir quasi gezwungen uns zu integrieren (lacht). Ich glaube, es ist entscheidend, dass ich meinen beruflichen Weg gefunden habe. Ich fühle mich auf meinem Platz richtig. Dann ist man generell selbstbewusster und kontaktfreudiger.
Jetzt bin ist zufrieden. Ich habe ein super Team auf der Arbeit, ich bin in einem Verein aktiv, und habe meinen kleinen, aber stabilen Freundeskreis.

Haben Sie sonst in irgendeiner Art und Weise das Gefühl, dass die Migrationserfahrung Auswirkungen auf Ihr Leben hier in Deutschland hatte?

Es ist für mich eine Bereicherung und meine Kinder sehen das auch so. Nicht nur, weil man hier eine höhere und eine stabilere Lebensqualität haben kann, als gegebenenfalls im Heimatland. Selbst der Prozess, sich in eine andere Kultur einzuleben und in einem fremden Land zurechtzukommen schärft und stärkt die Persönlichkeit. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man es, wie ich, aus freien Stücke macht, oder gezwungen wird.
Meine Migrationserfahrung und die unerwarteten Probleme, die ich mit Hilfe von Fremden in einem fremden Land bewältigen konnte, haben mich demütiger, dankbarer, aber auch stärker und selbstbewusster gemacht. Es ist mir noch bewusster geworden, dass der Mensch zählt, egal, wo er in der Welt ist.